Dezember | Philip Remy
1989 fiel die Mauer. Und damit war auch das Ende der Bundesrepublik gekommen, wie sie die Deutschen im Westen seit ihrer Gründung gekannt hatten. Die letzten zehn Jahre bis dahin, die 80er Jahre, waren rückblickend gekennzeichnet von einer gewissen Beschaulichkeit, die die folgenden Umbrüche kaum erahnen ließ. Auch in Stein.
Zwar hatte der Wandel, der mit der „staatlichen Anerkennung“ der Schule einherging, bereits eingesetzt, aber noch war im Grunde alles beim Alten. Es gab kein Internet, keine Handys, und das einzige Tor zur Welt war der alte rote Schienenbus, mit dem man nach Traunstein kam, um dort in den Zug nach München einzusteigen. Und wer mit seinen Eltern sprechen wollte, der konnte nach dem Abendessen bis um neun erreicht werden. Die alte Telefonanlage aus Bakelit mit Wählscheibe und hunderten beleuchteten Knöpfen stand im Büro neben der Küche, wo eingeteilte Schüler zum „Telefondienst“ eingeschlossen wurden, um die Verbindung zu den einzelnen Stationen herzustellen.
Die „splendid isolation“ trug wesentlich bei zu der besonderen Atmosphäre in der Schule. Der Verfasser machte 1982 sein Abitur in Stein und kehrte Anfang 1984 für eineinhalb Jahre als Erzieher zurück. Im Gespräch mit Angi Ziegler ließ er im Dezember die Erinnerungen an einige Highlights der 80er Jahre in Stein noch einmal aufleben.
Vor dem Hintergrund der heutigen Omnipräsenz von Unterhaltungsangeboten scheint es kaum mehr vorstellbar, dass es in den ersten Jahren der 80er in Stein noch einen Filmclub gab. Es hatte einen professionellen 16-mm-Projektor, der Kuhstall wurde zum Kino, und über Katalog ließen sich halbwegs aktuelle und kulturell bedeutsame Filme bestellen, die in mehreren Rollen angeliefert wurden. Vorführung war immer Samstagabend, der Saal war jedes Mal rappelvoll. Angie Ziegler erinnert sich beispielsweise an Gorkis „Sommergäste“, eine Verfilmung der Inszenierung von Peter Stein, die sie mit ihrem Mann noch am Halleschen Ufer in Berlin gesehen hatte. „Uns lag ja schon am Herzen, dass ihr ein bisschen Bildung mitkriegt.“
Es lag in der Natur der Sache, dass der „Weiße Hai“ oder „Einer flog übers Kuckucksnest“ noch mehr Zuspruch bei den Schülern fanden. Aus heutiger Sicht sind auch diese Filme längst Kultur. Als weiteres Angebot zur Erbauung der Schüler gab es ein Abonnement von 20 Karten am Landestheater Salzburg für alle Vorführungen. Danach ging es immer noch zum Abendessen, was für viele der Höhepunkt des Ausflugs war.
Wesentlich enthusiastischer wurde die Mitwirkung an den alljährlichen Theateraufführungen angenommen; auch wenn das in den 80ern nicht anders gewesen sein dürfte als in den Jahrzehnten zuvor. Das Steiner Theater, das zum Elternabend aufgeführt wurde, war immer ein Höhepunkt im Schuljahr. Freilich gab es in den 80ern eine ganze Reihe von legendären Inszenierungen, wie Angi meint, zu denen der Verfasser als Darsteller und später auch Autor und Regisseur beitragen durfte.
Den Auftakt machte Oscar Wildes „The Importance of Being Earnest“, die Komödie aus der englischen Oberschicht, die von den Steiner Schülern natürlich ungeheuer glaubhaft dargestellt werden konnte. Kostümmäßig wie immer stilvoll ausgestattet von Hilde Weymar und Angi Ziegler. Unvergesslich für Angi Ziegler bleibt Susi Fischer als Tante Augusta in den Kleidern von ihrer Schwiegermutter, der Schulgründerin Ilse Wiskott. Spielleitung damals lag in den Händen des Ehepaars Theodor und Ingrid Kelle, die die jungen Talente eher bremsen, denn antreiben mussten.
Ebenso unvergessen die selbstgeschriebene Parodie auf die Einführung der Privatsender in Deutschland „SFS Sender Freies Stein“; schließlich die Adaption der Wilde-Novelle „Das Gespenst von Canterville“ und die Freiluftinszenierung der Moritat vom „Raubritter Heinz von Stein“. Alles rauschende Erfolge, erstklassiges Entertainment mit hochbegabten Laiendarstellern, sicher weit über dem Niveau üblicher Schüleraufführungen. Cum grano salis. Barbara Bondy vom Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, langjährige Freundin der Familie Ziegler und damals in Stein als Deutschlehrerin für die Oberstufe engagiert, hätte es lieber gesehen, wenn „Hugo von Hofmannsthal“ inszeniert worden wäre. „Sie sah schon die neuen Entwicklungen“, so Angi Ziegler, „und erkannte auch das Potential etwa von Thomas Gottschalk, mit dem sie euch manchmal verglich. Aber es folgte immer ein Stoßseufzer: „Was könnte der bei der Jugend bewirken.“
1986 dann die Versöhnung. „Der eingebildete Kranke“, Molière! Klassik und Entertainment in einem, unvergesslich Erol Ünsalan als Argan, der später viele Jahre erfolgreich als Schauspieler arbeiten sollte. Die Fotos der Aufführung hingen noch Jahrzehnte in den Steiner Gängen. Und auch nach dieser vom Verfasser geprägten Theaterzeit ging es glanzvoll weiter. Ebenso unvergesslich für alle, die daran mitwirkten oder es sahen: „Arsen und Spitzenhäubchen“, mitreißend in den Hauptrollen Tino Dietrich und Sebastian Dehnhardt. Ganz unvollständig wäre dieser kurze Ausflug in den Steiner Spielplan der 80er ohne eine Erinnerung an die zweite Säule der kulturellen Steiner Höhepunkte, den Fasching. Die monatelangen Vorbereitungen, von der Suche nach dem Motto bis zum künstlerischen Ausschmücken der Räume, schweißten die freiwilligen Helfer fest zusammen, das rauschende Fest krönte die Mühen.
Zwei besonders üppige Faschingsfeste in der dafür dekorierten Turnhalle stechen hervor: der intergalaktische Fasching unter einem „echten“ Sternenhimmel; schwarz bemalte Papierbahnen waren in unendlicher Mühe mit Nägeln perforiert worden. Durch die Löcher funkelte das Licht dann täuschend echt wie flackernde Sterne und imitierte die Weiten des Weltalls. Und bei der „Nacht der Clowns“ standen vier überlebensgroße Clowns an der Tanzfläche und wachten über die Tänzer. „Ja, die Faschings- und Theaterzeiten waren immer die glücklichsten“, hatte Olaf Ziegler einmal geschrieben. „Aus anfänglichem Chaos, unerfüllbaren Wünschen, bei überschätzten Möglichkeiten – aus all den guten und bösen Träumen gelang im Spiel so manche tiefgreifende Wandlung und Entwicklung einer jugendlichen Persönlichkeit.“
Mit den 80ern wurde es aber dann auch etwas ruhiger um die alljährlichen Inszenierungen, andere Ereignisse des Steiner Jahrs gewannen neue Bedeutung. Auch das ein Zeichen des Wandels, der sich rückblickend deutlich abzeichnete. Gleich vier Mitarbeiter von Schule und Internat, die die Schule fast von Anfang an maßgeblich geprägt hatten, schieden in den 80ern aus. Hilde Weymar, hochkultivierte Hausdame seit 30 Jahren, enge Weggefährtin von Angi Ziegler, verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit 1981. Im Jahr darauf ging „der Poldi“ Dr. Gerhard Rasch in den Ruhestand, Helmut Konrad, legendärer Sportlehrer seit Ilse Wiskotts Zeiten, folgte kurz darauf. Und schließlich verließ auch Frieda Herbst, die österreichische Köchin mit dem goldenen Herz, ihre Wirkungsstätte im Erdgeschoss des Steiner Schlosses. Die Erinnerung an jede einzelne dieser Persönlichkeiten würde Bände füllen.
Nicht immer gelang es, die Lücken gleich stark zu füllen. In der Küche zog freilich mit Margot Kirchner 1982 eine Köchin ein, die ihr Reich in den folgenden zwei Jahrzehnten ähnlich auszufüllen vermochte wie ihre Vorgängerin. Angi Ziegler erinnert sich, wie sie mit ihr die neuesten Ausgaben der Zeitung Essen & Trinken nach Anregungen durchforstete. „Wir überlegten uns“, so Angi Ziegler, „wie wir das alles etwas vereinfacht machen können für Schüler. Damals waren ja die Küchenzettel viel abwechslungsreicher. Heute essen die das alles nicht mehr.“ Dieses Bemühen, Heim und Schule für die Kinder zu verschönern, ist für Angie Ziegler überhaupt ein wesentliches Spezifikum der 80er Jahre in Stein. „Ich glaube, man wollte die ganze Tristesse der 70er, RAF und das alles, hinter sich lassen.“
Die Schule machte 1980 den Anfang; vor der umfassenden Renovierung durfte das ganze Schulhaus von den Schülern auf den Kopf gestellt werden, „vom Speicher bis zum Keller“. Die neugebaute Reithalle folgte. Und eine Bibliothek im Schulgebäude. Das Vorzeigeprojekt dieser Jahre bleibt für Angi Ziegler aber der neu gestaltete Club. „Wir wollten weg von dem versifften Gewölbe“, so Angi Ziegler, „wo überall die Kabel rumhingen und es nach altem Bier stank. Die hatten einfach keinen Sinn für Ästhetik. Alles dreckig und schmuddelig und scheußlich.“
Angi Ziegler gerät ins Schwärmen, wenn sie über die Sanierung des Clubs spricht. Bei Radspieler in München wurde ein ebenso edler wie günstiger Stoff für die Bezüge der Sitze gefunden. „Alles helle Farben, ein Baumwoll-Rips, beiger Grund mit zartblauem Muster. Sehr elegant!“ Der Sattler und Polsterer in Stein leistete ganze Arbeit. Die Sitze, vorher alte Biertragerl, wurden aufgemauert und weiß geschlämmt. „Alles ein bisschen Marokko.“ Die kleinen Beistelltische mit Messing beschlagen, an den Wänden hingen künstlich gealterte Spiegel. Glücklich erinnert sich Angi Ziegler, wie Nadine Schröder schließlich noch ein paar Orangenbäumchen als Deko mitbrachte.
So elegant und leicht und hell wie der renovierte Club erscheinen Angie Ziegler die ganzen 80er Jahre im Rückblick. Auch im Zusammenleben mit den Schülern. Zum ersten Mal hatten sich junge Steiner, darunter der Verfasser, freiwillig und gerne an den Esstisch der Zieglers gesetzt. Das war auch für Olaf und Angie Ziegler, wie sie betont, ein wichtiger Einschnitt. „Wir haben so viel gelacht, es war herrlich.“ Damals wuchs eine Nähe zwischen den Zieglers und den Schülern, die ganz ungewöhnlich ist für eine normale Schule. Ein schönes, ein letztes Beispiel dafür ist die alljährliche Schulreise der 11. Klasse 1988 nach Paris. Olaf und Angie Ziegler fuhren damals häufig mit, besonders wenn es nach Frankreich ging.
Das Flair der Stadt tat seine Wirkung. Mancher Steiner Schüler war nach den sieben Tagen Aufenthalt wie verwandelt; und auch an Olaf Ziegler war die Reise nicht spurlos vorübergegangen. Vor Sacré Coeur spielte ein Bettler auf einer Klarinette. Gegen ein kleines Trinkgeld war er bereit, Olaf Ziegler zu begleiten, der daraufhin den Steinern und der Öffentlichkeit Arien aus dem Don Giovanni darbot. Die unfreiwilligen Zuhörer spendeten begeistert Applaus und warfen sogar einige Münzen in den Hut des Klarinettisten.
„Wenn ich so von oben herabschaue über die Jahre, dann fällt mir auf, was für Unterschiede da herrschten, vom Zeitgeist, von der Kultur, von allem, was uns wichtig war.“ resümiert Angie Ziegler nach über einer Stunde das Gespräch zu den 80er Jahren in Stein. „Es war eine glückliche Zeit, sonnenbeschienen.“ Schon bald sollte sich das Blatt wenden. In den 90er begann die Gesundheit von Olaf Ziegler nachzulassen. Sein Sohn Sebastian, der 1984 in Stein Abitur gemacht hatte, würde schließlich übernehmen. Umso kostbarer sind für Angie Ziegler die Erinnerungen an die unbeschwerten 80er Jahre.
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